Anfang 1984, als Patrik “Senior” des Corps Hansea war, reiste er mit seinen Conaktiven über ein Wochenende in die Universitätsstadt Göttingen, um einige dort ansässige Corps zu “besuchen”. Alle Hanseaten wohnten “auf dem Haus” des Corps Hannovera, dessen Senior ich zu dieser Zeit war. Unsere beiden Corps hatten zu dieser Zeit einen “Doppelbändermann”, also ein Mitglied beider Corps. Deshalb lag es nahe, dass “die Hansen” bei uns übernachteten.

An einem Abend beschlossen wir – alle Aktiven unserer beider Corps – gemeinsam das ebenfalls in Göttingen ansässige Corps Saxonia aufzusuchen. So ein “Besuch” läuft nach etwas anderen Regeln ab, als das “im normalen Leben” der Fall ist. Gesprochen wird nur das nötigste, ansonsten trinkt man unter Wettbewerbsbedingungen Bier. Viel Bier. Nicht jedermanns Sache, aber für einen jungen Corpsstudenten Tagesgeschäft.

Nachdem Hanseaten und Hannoveraner den Besuch nach etwa dreissig Minuten erfolgreich beendet hatten, beschloss man, zu Fuss zum Haus der Hannovera zurückzukehren. Göttingens fast komplett erhalten gebliebener historischer Ortskern ist von einem Erdwall, dem Überrest der mittelalterlichen Stadtmauer, vollständig umschlossen. Das Corpshaus der Hannovera liegt direkt an diesem Wall. Insofern findet man auch unter schwierigsten Bedingungen immer nach Hause, wenn man dem Wall in welche Richtung auch immer folgt.

Nachdem wir also den Besuch bei Saxonia beendet hatten und Patrik und ich uns gegenseitig hinsichtlich unserer Leistungen im Biertrinken respektabel fanden, entschieden wir beide, dass nur die zwei jeweiligen Senioren noch einmal zum Haus der Saxonia zurückkehren sollten um unsere – wie wir unzweifelhaft meinten – großen Künste zum Besten zu geben. Den Rest der beiden Mannschaften schickten wir nach Hause. Als Senior durfte man das. Und wir beide waren uns auf Anhieb sympathisch. Er mir jedenfalls.

Wir beide gingen also allein zurück und tranken einige “wenige” weitere Biere mit den Sachsen. Unser Übermut sollte sich als nicht wirklich vorteilhaft herausstellen. Nach etwa fünfzehn Minuten verliessen wird das Sachsenhaus. Inzwischen war es dunkel geworden, wie gesagt, es war Januar. Vom Haus der Sachsen, so hatte ich es in Erinnerung, waren es etwa fünfhundert Meter zum bereits erwähnten Wall um Göttingens Innenstadt. Also entschied ich, den kürzesten Weg in die Himmelsrichtung zu nehmen, in der ich den Wall vermutete. Nach einigen Metern tauchte ein Zaun vor uns auf, der da meiner Meinung nicht hätte sein dürfen. Na ja, egal, wir kletterten halt darüber. Hinter dem Zaun befand sich jedoch kein Weg oder ähnliches, sondern irgendwelche Pflanzen, Bäume, allerlei Gestrüpp. Wir bahnten uns dennoch heldenhaft unseren Weg durch diesen “Urwald”. Machmal stolperten wir über Schlingpflanzen, manchmal mussten wir Pflanzen aus dem Weg räumen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir da waren, aber nach etwa dreihundert Metern kletterten wir über einen weiteren Zaun und standen vor dem Wall, folgten ihm, waren nach gefühlten zwei Stunden am Corpshaus der Hannovera angekommen und gingen direkt zu Bett.

Am nächsten Morgen hörte ich aus dem Nebenzimmer, in dem Patrik schlief, lautes Geschrei: “Scheisse, was ist das? Meine Hose, meine Jacke, alles verdreckt!” Ich ging zu ihm und musste herzlich lachen. Seine Kleidung vom Vorabend war komplett mit Erde, Grünzeug und Schlamm verschmutzt. Dann zurück in meinem Zimmer entdeckte ich auf meiner Kleidung die exakt gleichen “Schäden”. Wir wussten beide nicht, wo und wie uns das passieren konnte.

Am frühen Nachmittag kam einer meiner Corpsbrüder auf´s Haus und brachte die Zeitung “Göttinger Tageblatt” mit. Darin gab es im Lokalteil einen Artikel mit dem Titel “Vandalismus im Botanischen Garten”… Weitere Details fallen unter die Schweigepflicht, aber nun wussten wir beide, wo wir am Abend zuvor gewesen waren und lachten herzlich.

Sechzehn Monate später zog ich nach Bonn und wurde der zweite “Zweibändermann” unserer Corps. Patrik hatte mir gefühlt monatlich zugerufen: “Komm` nach Bonn, wir werden Spass haben.” ‘So war es. In jeder Sekunde, die ich mit ihm gemeinsam verbringen durfte. Unsere Freundschaft hat die spassige Zeit, die wir als junge Männer hatten, überdauert. Er nannte mich “das rosa Marzipanschweinchen” und wurde Pate einer meiner Töchter. Wir haben den Kontakt immer gehalten, zuletzt haben wir uns in Brüssel im Oktober 2019 gesehen. Danke für siebenunddreissig Jahre echte Freundschaft. Ich küss Dich.